Turmsucht
Kapitel 7
Kurzgeschichten aus luftiger Höhe
Sie sind markant und stehen selbstbewusst in der Landschaft. Sie blicken uns aus vielen Gesichtern entgegen – mal einladend, mal einschüchternd.
Sie sind unterschiedlich und haben dennoch viel gemeinsam. Allem voran das Abenteuer, welches in einem uneingeschränkten 360 Grad Blick gipfelt.
Sucht wird definiert als «übersteigertes Verlangen nach etwas, einem bestimmten Tun». Das trifft auf das Erklimmen von Felstürmen eigentlich sehr gut zu. Insbesondere wenn man bedenkt, nach welchen Kriterien wir in den Kletterführern unsere Highlight-Routen auswählen.
Welche Türme sehen besonders cool aus?
Welche davon sind mit unseren Fähigkeiten machbar?
Für welche reicht unser Material?
Wie viele davon können wir in der verfügbaren Zeit klettern?
Der ausgeprägte Abenteuercharakter macht das Gekraxel an Türmen zu einem Erlebnis, dass sich stärker als andere im Gehirn einprägt und das Verlangen nach mehr befeuert.
Es folgen drei Kurzgeschichten und der Versuch, einen Einblick in den Wahnsinn des Turmkletterns zu geben.
Kackwurst
Ein ohrenbetäubender Knall zerreisst die Luft. Gefolgt von einem zweiten. Nach der Ursache suchend, blicken Nicolas und Lena zum Himmel hoch. Farbige Fallschirme entfalten sich über ihnen und sorgen dafür, dass die Basejumper den Boden wieder heil erreichen. Die mächtigen roten Felsformationen rund um den Ort Moab locken eben nicht nur Kletterer an.
Das heutige Ziel hat sich in ihren Köpfen als Bild einer Kackwurst manifestiert. Acient Art, dieses speziell hübsche Exemplar eines Turms, wäre auf der Liste der kuriosesten und schrägsten Steingeschwüre ganz vorne mitdabei. Von unten betrachtet wirkt der Turm eher wie ein merkwürdig geformter schmaler Kamm. Von vorne und oben ist – möglicherweise verstärkt durch die rotbraune Farbe – die Kackwurst unverkennbar.
Beim Einstieg sehen sie eine Dreiergruppe in der ersten Seillänge. Zwei der Drei scheinen mit der Verrücktheit dieser Kletterei stark am Kämpfen zu sein. Was Lena und Nicolas zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Das Trio vor ihnen macht den kurzen Ausflug zu einem tagesfüllenden Programm.
Mit einem guten Abstand wagen sich die beiden selbst in die Wand. In für Sandstein typisch brüchigem Gelände geht es hinauf bis unter einen langen Kamin. Sie verrenken sich, stemmen mit Händen und Füssen gegen die Wand und können sich ein Lachen nicht verkneifen. Von Aussen müssen die Verrenkungen überaus amüsant aussehen. Auf der Party Ledge, einem Felsband wo sich Gruppen kreuzen können, warten sie, bis die Dreiergruppe vor ihnen den Rückzug antritt. Da ertönt unter ihnen aus dem Kamin ein merkwürdiges Geräusch. Furzt der Eine aus der Seilschaft unter ihnen etwa lautstark? Der Tatverdächtige, der sich kurz darauf über der Felskante blicken lässt, zeigt auf das Gummischwein an seinen Klettergurt und klärt lachend auf: «If you were wondering, it wasn‘t me farting my way up here. It was my climbing pig».
Nach einer ausgedehnten Wartephase auf der Party Ledge geht es mit dem anspruchsvolleren Teil der Tour weiter. Ein luftiger Kamm führt zu einer Plattform, auch Sprungbrett genannt. Nicolas macht den eleganten Auftakt: Er setzt sich hin und robbt auf seinem Allerwertesten nach vorne, bevor er sich dem Sprungbrett entlang manövriert. Gekonnt angelt er sich die ausladenden Wülste der Kackwurst empor. Wieder unten angekommen ist Lena dran. Sie entscheidet sich beim ersten Teil für eine etwas andere Technik: Laufen. Leichtfüssig erreicht sie die andere Seite. Ihre Schlüsselstelle ist jedoch am Fuss der Kackwurst, die sie aber gekonnt mit einer Schlinge als Fusstritt überwindet.
Das sollte aber noch nicht das ganze Abenteuer gewesen sein. Das Seil reicht beim Abseilen nur knapp. Nicht. Die beiden baumeln gut einen Meter über dem Boden, das Seilende in der Hand und ein Grinsen auf dem Gesicht. Ja, Moab ist ein abenteuerlicher Spielplatz.
Attraktion
Wer die USA mit dem Auto bereist, wird schnell auf die Nummernschilder der einzelnen Bundesstaaten aufmerksam. Mit Sprüchen und Illustrationen wird der Charakter des Staates präsentiert. Besonders im Bundesstaat Utah scheint das Nummernschild gleichzeitig ein wirksames Marketinginstrument zu sein: Der Delicate Arch, das wohl bekannteste Wahrzeichen des Arches Nationalpark, ziert prominent die Rückseite der Autos. Unweigerlich hoch sind die Erwartungen von Nicolas und Lena, als sie eines schönen Tages selbst die Tore des Parks passieren.
Sie stellen das Auto auf dem Parkplatz ab, sehen sich die imposanten roten Steinbrücken (Arches) und Türme an, knipsen Fotos und wiederholen den Prozess mehrere Male. Nach jedem Stopp rückt eine Frage stärker in den Vordergrund: Ist dies noch ein Naturerlebnis oder doch eher ein Postenlauf mit vordefinierten Fotosujets? Sie fassen den Entschluss, das Zepter wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Eine Plauschtour führt auf den aussichtsreichen Owl Tower. Ein toller Nachmittagstripp hoch über den Besuchermassen, denken sich Nicolas und Lena. Als sie gemeinsam in der Abendsonne auf dem kugelförmigen Gipfel stehen, bemerken sie einen Mann am Strassenrand, der ein potentes Objektiv auf sie richtet. Auch ein paar Autos verlangsamen beim Vorbeifahren ihr Tempo und neugierige Blicke wandern nach oben. Belustigt stellen die beiden fest, dass sie selbst zur Attraktion geworden sind.
Zurück an der Strasse hält ein Chinese in seinem Auto an und meint in gebrochenem Englisch: «I have seen you up there, I made videos». Er möchte wissen, wie man solch einen Turm bezwingt und blickt interessiert und gleichzeitig verwirrt auf das Kletterequipment.
Als Lena und Nicolas gerade in den Van steigen wollen, kommt der Mann, wild mit dem Handy fuchtelnd, wieder zu ihnen gelaufen. Er fragt, ob er noch ein Abschlussvideo mit ihnen machen kann. Klar doch. Als Lena sich gerade neben Nicolas stellen will, bekommt sie mit einer Selbstversändlichkeit das Handy in die Hand gedrückt. Über beide Backen stahlend legt der Chinese den Arm um Nicolas und posiert für die Aufnahme.
Die beiden warten bis heute auf das versprochene Video. Falls jemand zufälligerweise im Internet darauf stossen sollte, würden sie sich über eine Weiterleitung freuen.
Geburtstagswunsch
Die untergehende Sonne lässt die Farben des Himmels und der Erde miteinander verschmelzen. Nach einem Besuch auf dem Mars wundern sich Nicolas und Lena, was die Welt der Götter wohl für sie bereithalten wird. Durch das Valley of the Gods schlängelt sich eine unbefestigte, sandige Strasse mit vielen Schlaglöchern. Wer die Buckelpiste auf sich nimmt, wird mit einem nicht enden wollenden Camping belohnt. Überall wo Platz ist, darf das Haus auf Rädern abgestellt werden. Ohne konkreten Plan fahren die beiden Tal einwärts. In einer Kurve erblicken sie im Dunkeln rechts von ihnen eine flache Ebene zu Fusse eines imposanten, schmalen Turms. Sie parken, kochen und backen – denn am nächsten Tag ist Nicolas‘ Geburtstag.
Als Lena gerade die Kuchenbackzeit um 15 Minuten verlängert und zurück in den Van steigt, sieht sie Nicolas grinsend am Tisch sitzen, den Blick aufs Handy gerichtet. «Was?», fragt sie, obwohl sie eigentlich bereits weiss, was er ihr gleich sagen wird. «Hier kann man Klettern», triumpfiert Nicolas. Mit «hier» meint er nicht das Tal, sondern den Turm, vor dem sie parken. Der Turm, so verrät ihnen die Kletter-App Mountain Project, ist der einzige im ganzen Tal, den sie a) überhaupt mit ihren Kenntnissen klettern können und der b) dazu noch eine besonders schöne Tour sein soll. Der ersten Euphorie folgt ein berechtigter kritischer Gedanke: Sind sie wirklich Fähig auf diesem Niveau, ohne ernsthafte Erfahrung mit Sandstein, eine solch anspruchsvolle Risskletterei zu meistern? Lena zögert. Doch mit dem freudigen Funkeln in Nicolas‘ Augen schwappt die Begeisterung auch auf sie über. Und dem Geburtstagskind diesen Wunsch auszuschlagen, würde sie sich noch lange vorhalten.
Bepackt mit Geburtstagskuchen, Klettermaterial und Drohne stapfen die beiden bei Dämmerung auf bröckeligem Untergrund zum Einstieg. Vom Auto betrachtet präsentiert sich der Eagle Plume Tower als schmaler, scheinbar unüberwindbarer Pfeiler. Von der Seite gleicht er eher einer Irokesenfrisur. Vier Seillängen trennen sie vom Gipfel. Die ersten beiden Seillängen zeigen deutlich den abenteuerlichen Charakter, den man beim Klettern von Wüstentürmen erwarten darf: Brocken von losem Gestein, dass unter Händen und Füssen wegzubrechen droht. Je höher sie kommen, desto kompakter ist der Stein. Die senkrechten Risse verlangen den beiden doch einiges an technischer Versiertheit und Nerven ab.
Oben angekommen sind die Strapazen schnell wieder vergessen. Stolz stehen Nicolas und Lena auf der lang gezogenen Gipfelplattform und schauen auf das Tal hinunter, auf die umliegenden Türme, die endlose Weite. Ihr Jubelschrei wird von den Insassen eines vorbeifahrenden Autos erwiedert. Die beiden grinsen sich an. «Wie die Götter stehen wir hier, nicht wahr?», meint Nicolas.
Ein bleibendes Erlebnis – erstaunlich und gleichzeitig erfreulich beängstigend, was das Schicksal hier für sie bereitgehalten hat.