Vertikal
Kapitel 4
Eine Hommage in 6 Pitchen Akten
Ein Meer aus grauen Felsen ragt zwischen den Baumwipfeln empor, lässt die umliegenden Wohnhäuser im Schatten stehen und die Autobahn vergessen gehen. Bedrohlich und einladend zugleich. Ein Ort der Magie, ein Ort des Nervenkitzels, ein Ort der unendlichen Möglichkeiten.
Wir tasten uns den Felsen entlang, fühlen ihre Kraft durch unsere Adern fliessen. Griffe und Tritte, mal klein, mal gemein, mal inexistent. Begleitet vom Klangspiel der Karabiner, verbunden durch das Seil, das uns hälft. Das Chalk an den Fingern, mit dem es zwar nicht besser, aber sicherlich länger geht. Ein Fluss von Bewegungen, stets dem Instinkt folgend. Doch verhält es sich hier nicht anders als bei der Kommasetzung. Verlass ist nicht stets darauf. Dennoch spüren wir den Rhythmus. Die Felsen lassen uns tanzen, bringen uns hoch hinauf. Sie zeigen uns Grenzen auf und loten diese aus. Kein Platz für Zweifel oder Angst, nur Vertrauen in unsere Fähigkeiten und in den Moment, der vor uns liegt. Wir entdecken eine neue Art von Stolz und Respekt für uns selbst. Und gegenüber den mächtigen Formationen.
Wir stärken das Band. Das Band zwischen uns und der vertikalen Welt. Die raue Wand ist unser Spielplatz, unser Fluchtort vor der Realität. Hier sind wir die Mutigen, die Unerschütterlichen, die alles können. Und nichts zugleich. Die Herrscher über die Felsen, die selbst beherrscht werden.
Oft enden wir in der Vertikalen, hören nur die Rufe unserer Muskeln, die eine Pause fordern, sind auf uns allein gestellt. Und während wir an den Wänden hängen, fragen wir uns, wer überhaupt auf die Idee gekommen ist, sich freiwillig in solche Positionen zu zwängen, in eine solche Lage zu bringen. Und das in Schuhen, vor der jede Gesha zurückschrecken würde. Aber dann, wenn wir uns dem Gipfel nähern, stellt sich ein Gefühl der Befriedigung ein. Lässt uns schweben. Ein Hauch von Freiheit.
Die turbulente Welt aus Steinen ist das Zuhause von Euphorie und Erschöpfung. Von Freude und Frustration. Von Wachstum und Wunden. Von Tagträumen und Tränen. Von Grimassen und Glücksgefühl. Ein unverwechselbares Wechselspiel.
Ein Hoch auf all die beglückenden Momente, die wir hier erlebt haben. Auf die blauen Flecken, die gebrochenen Nägel, die ungehörten Rufe, die abgewetzten Fingerspitzen, die Energie-Riegel, die blutigen Knöchel, die schwindelerregenden Höhen und die inspirierenden Begegnugen.
Ein Hoch aufs Leben.
[Disclaimer: Diese «Hommage» basiert auf wahren Begebeheiten. Die Intensität und emotionale Überspitzung ist dabei ein bewusst eingesetztes dramaturgisches Stilmittel und soll in keiner Weise eine abschreckende oder verstörende Wirkung auf das Publikum haben. Für dennoch entstandene kurz-, mittel- oder langfristige Folgen jeglicher Art wird keine Haftung übernommen.]