Ewiger Herbst
Kapitel 16
Oder: Wie wir dem Schnee (fast) entkommen sind
Seit einiger Zeit ist uns bewusst, dass die südamerikanischen Dimensionen spürbar grösser sind, als wir in unserer naiven Anfangseuphorie hatten wahrhaben wollen. Entsprechend macht sich Erleichterung breit, als feststeht, dass Burrito bereits Anfang Mai von Santiago de Chile aus seine Rückreise nach Europa antreten wird – und nicht wie ursprünglich geplant in Cartagena, Kolumbien*. Ein wichtiges Puzzleteil, dass uns für die Planung der verbleibenden Zeit noch gefehlt hat. Wir passen die Reiseroute an. Statt uns weiter linear nordwärts zu verschieben, bewegen wir uns im Zickzack zwischen Bergtälern, Canyons und Grossstädten, zwischen Argentinien und Chile.
*plus mindestens 7’000 Kilometer & drei Länder
Schwerelos
Nach einem Offroad-Abstecher durch den chilenischen Nationalpark des Vulkans Llaima landen wir in einem Tal, das uns komplett in seinen Bann zieht: das Valle de los Cóndores. Die einzigen Wesen, mit denen wir den Ort teilen, sind die Vögel, die dem Tal seinen Namen geben. Schwupsdiwups, eine Woche ist vorbei. Der aufziehende Regen und Blick in den leeren Kühlschrank lässt uns weiterziehen.
Zu Wino sagen wir nie no
Mit dem Überqueren der Landesgrenze hört der Regen leider nicht auf. Ein wenig ziellos bewegen wir uns Richtung Mendoza, die Weinmetropole Argentiniens. Mehrere Zufälle wollen es, dass sich dort unsere Wege mit denen von Delia und Mischa nochmals kreuzen. Bei einer Übernachtung auf dem privaten Camping von José und seiner Frau bekommen wir einen Einblick in das lokale Leben und Sein. Auch wenn die beiden selbst nicht viel haben und ihr bescheidenes Grundstück mit einer Horde Hunden und Katzen teilen, sollte es uns an nichts fehlen. José heizt sogar den selbstgemachten Pizzaofen ein und verwickelt uns in tiefgründige Gespräche – auch wenn wir davon manchmal nur Spanisch verstehen.
Nach dem ganzen Klettern und Entdecken ist es höchste Zeit für ein kulturelles Highlight: Inmitten von Weinreben (Weingut Ojo de Agua, Anbaugebiet PURO) lassen wir uns kulinarisch verwöhnen und probieren uns durch die guten Tropfen. Der Herbst hat in dieser Region etwas Magisches: die Reben und Laubbäume sind rot-goldig verfärbt, auf den Spitzen der umliegenden Berggiganten glitzert der erste Schnee und die tiefstehende Sonne bringt die Farben nochmals intensiver zum Leuchten.
Wagemut tut immer gut
Wagemutig stürzen wir uns, trotz fortschreitender Kälte und kürzeren Tagen, gemeinsam mit Delia und Mischa in das hochgelegene Bergtal Los Arenales. Die mächtigen Granitwände, die das Tal flankieren, lassen uns gross träumen, dann aber doch vernünftig sein. Zu viert kraxeln wir hoch hinaus, schauen bewundernd zu, wie die Kondoren ihre Kreise drehen und lassen uns bei der Wanderung auf den Punta Negra (4’450 m.ü.M.) den Atem rauben.
Wir checken ständig die Wetterprognosen und versuchen, das Beste aus der verbleibenden Zeit herauszuholen. Wir tanken Wärme im Cañon de Atuel, machen einen kurzen Abstecher zum Windschutzscheiben-Doktor in Mendoza, looten in Los Arenales nochmals unser Trad-Können aus und tauschen die Daunenjacke in einem Canyon bei Barreal gegen kurze Hosen.
Winter is coming
Einer Eingebung folgend fahren wir bereits ein wenig früher zum letzten Grenzübergang in der Aconcagua Region. Der argentinische Tankwart macht uns netterweise darauf aufmerksam, dass wir nur noch jetzt gleich die Grenze passieren können oder sonst ein paar Tage zu warten hätten, da der Grenzpass aufgrund der Schneeprognosen geschlossen wird. Wir verkochen also blitzschnell unsere Gemüsevorräte und stehen nur wenig später vor einem modernen Drive-Through Grenzübergang. Wir schlafen gleich auf der chilenischen Seite des Passes, und so gehört die kurvige Panoramastrasse am nächsten Morgen uns alleine. Die dünne Schneeschicht, die Burrito am Morgen bedeckt hat, schmilzt auf dem Weg nach Santiago de Chile schnell davon. Wolkenkratzer, schön gepflegte Parkanlagen und eine nahezu überfordernd grosse Auswahl im Supermarkt – der Kontrast zu den letzten Wochen könnte kaum grösser sein.
Die Optionen zum Entdecken und Klettern rund um Santiago sind definitiv vorhanden. Die grossräumige Privatisierung verbunden mit kostenpflichtigen Zugangsbewilligungen, die nur im voraus beantragt werden können, sind jedoch ein Dämpfer für Spontanität und Stimmung. Hinzu kommt, dass der Winter uns hier doch noch eingeholt hat. Die Bedingungen in den schönen Bergtälern sind garstig, die dicke Daunenjacke wird zur ständigen Begleiterin, die klirrende Kälte und der bissige Wind erschweren unsere Kletterversuche und lassen uns für heissen Tee und eine tadellos funktionierende Standheizung dankbar sein.
Tetris
Und plötzlich geht‘s schnell. Wir stehen vor der wohl grössten Pack-Herausforderung unseres Lebens (ohne Seich!). Für die letzte Etappe unserer Reise soll all unser Kletter- und Campingequipment in zwei Rucksäcken Platz finden. Gut haben wir bereits ein wenig Übung in akribischen Packen und Freude daran, wie im Tetris Spiel für alles einen passenden Platz zu finden. Mit Bergschuhen an den Füssen und nur dem Allernötigsten im Gepäck steigen wir ins Flugzeug. Zurück in die USA.