Extrem

Kapitel 17

Countdown im Land der Gegensätze

Zurück in den USA. Zurück im Land der Extreme. Übernächtigt landen wir in Los Angeles, stolpern durch die menschengefluteten Strassen, halten uns mit überteuerten Kaffees wach, werden in amerikanischer Manier von Wildfremden zugetextet und lassen den entspannten Strandvibe auf uns überschwappen. Gespannte Vorfreude macht sich breit, als wir kurz darauf im Mietauto die verrückte Grossstadt hinter uns lassen.

Schattenjagd und Sonnentanz
In einem Land alles zu sehen und zu machen ist illusorisch – umso mehr auf den ganzen Kontinent bezogen. Je länger wir unterwegs sind und je mehr Bekanntschaften wir machen, desto umfangreicher wird unsere Liste an Orten, an denen wir (noch)einmal Zeit verbringen möchten. Mit unserer Rückkehr in die USA gehen wir unsere To Do Liste an.

Von Los Angeles fahren wir zum Klettern und Sightseeing nach Joshua Tree und Red Rocks in die Wüste, bevor uns die Hitze in höhere Lagen zum Big Bear Lake treibt. Wieder einmal sind wir positiv überrascht, wie cool die Kletterei, wie unterschiedlich die Landschaft, wie gut die Infrastruktur und wie einfach das Reisen hier ist. Ein Inlandflug bringt uns ins regnerische Portland, Oregon. Wir werden von Ryan abgeholt, einem Freund, den wir letzten September in Kanada beim Klettern getroffen haben und dem wir in Argentinien zufälligerweise wieder über den Weg gelaufen sind. Zu dritt quetschen wir uns mit Camping-, Klettermaterial und Essen in seine «Beth» (VW Jetta). Bei jeder kleinsten Unebenheit auf dem Weg zum Klettergebiet im Smith Rock State Park ächzt Beth und setzt ihren Hintern ab. Gut, dass wir hier die Zelte aufbauen und Beth ein wenig entlasten können. 

Back to Basic
Wir fühlen uns zurückversetzt ins Präburritolitikum*: Ein Leben im Chaos zwischen Camping- und Klettermaterial. Kochen und Essen am Boden oder, bei ganz ungemütlicher Witterung, im Auto. Ständig den Elementen ausgesetzt.

Als wir nach einem Hitzetag hartgekochte Eier aus dem Karton nehmen und die in einem Tag von grün zu schwarz verwandelten Bananen in den nächsten öffentlichen Abfalleimer werfen, wissen wir den Luxus einer Kühlbox noch mehr zu schätzen. Dass Lena jeden Morgen als Federvieh aus ihrem Daunenschlafsack kriecht, lässt sie ihr Bedürfnis nach einer normalen Decke mindestens zweimal täglich betonen. Wir geniessen das simple Leben und ertappen uns gleichzeitig beim Vergleichen mit der vorherigen Reiseform. Ja, wir vermissen unser Zuhause. Wir vermissen Burrito und mit ihm unseren Rückzugsort, unsere Unabhängigkeit und unsere Flexibilität.

*Ergänzung des Historikers

Zuverlässig unzuverlässig
Wie bei so vielem scheint es in den USA auch beim Wetter kein Mittelmass zu geben: zu heiss, zu kalt, zu windig, zu nass, zu staubig, zu verschneit. 

So mühen wir uns bei über 30 Grad steile Wände hoch, nur um wenig später die Aussicht auf eine spannende Gratkletterei unter viel Schnee begraben zu sehen. Obwohl es der Sandmann gut mit uns meint, indem er unsere Schlafsäcke mit einer grossen Portion Wüstensand berieselt, bringen die schwitzigen, kurzen Nächte nur wenig Erholung. Im Vergleich sind die kühlen Regennächte, die wir nach einer Runde Umbau-Tetris im Auto verbringen, nur wenig gemütlicher. Insbesondere, wenn wir das Auto mit einer hyperaktiven Spitzmaus teilen müssen. Da wünscht sich sogar Lena die Klapperschlange zurück, mit der sie im Joshua Tree ein tête-à-tête hatte. 

Wenigstens auf eines ist Verlass: Das Wetter ist garantiert anders, als es der Wetterbericht voraussagt. Egal ob wir uns in der Wüste, im Regenwald, an der Küste oder in den Bergen befinden: Gross träumen und flexibel bleiben entpuppt sich als die beste Devise. 

Reunion
Mit dem Mietwagen Nummer zwei holen wir uns ein wenig AUTOnomie zurück (höhö). Unverrichteter Dinge lassen wir die North Cascades und den Washington Pass hinter uns. Wir wollten ohnehin unser Trad- und Risskletterwissen nochmals festigen. Welcher Ort würde sich dafür besser eignen als Squamish (Kanada)? Zufälligerweise stossen wir dort auf Enea, einen Freund aus der Schweiz. Entgegen der vorgenommenen Eingewöhnungszeit stürzen wir uns bereits am zweiten Tag in einen Klettermarathon, um danach völlig erschöpft beim Inder unsere Batterien wieder aufzuladen. Etwas besser geplant startet unsere Bergtour. Den Fakt, dass wir kiloweise Klettermaterial umsonst den Berg rauf gebuckelt haben, kompensieren wir mit unserem atemberaubenden Bivakplatz. 

Im letzten Jahr durften wir uns ständig mit neuen Menschen, fremden Kulturen und unterschiedlichen Wertesystemen auseinandersetzen. Die letzten Erlebnisse der Reise mit jemandem teilen zu können, der mit den gleichen Grundwerten und Einstellungen aufgewachsen ist, zeigt sich als besonders schöne Ergänzung. Gibt es etwas besseres als dem Ende der Reise entgegenzublicken und zusammen mit tollen Menschen bereits Pläne für Zuhause zu schmieden? Wohl kaum. 

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Ewiger Herbst